Die ukrainische Stadt Czernowitz ist eine Provinzschönheit inmitten des Wahnsinns – Die Hauptstadt der historischen Region Bukowina hat eine atemberaubende Geschichte, sie ist Weltkulturerbe, Hafen für Geflüchtete und ein Zeichen der Hoffnung an Europa

Jeden Morgen um 9 Uhr steht in der Stadt, die die Ukrainer Cernivci nennen, die Zeit still. Vor dem Rathaus mit dem großen Turm hat die Hundertschaft der Stadtbediensteten Position bezogen, auf der anderen Seite des Zentralplatzes, ihnen weit gegenüber, steht eine Kompanie der städtischen Polizei stramm. Ein Offizier schreit einen knappen Befehl, zackig gehen die Mützen der Uniformierten nach unten. Sodann erklingt über einen gewaltigen Lautsprecher auf einem der vielen Balkone Glockengeläut. Letzte Passanten, noch nicht zur Ruhe gekommen, erstarren. Anschließend drei Minuten „Molytwa sa Ukrajinu“ – (Gebet für die Ukraine) -, ein herzerweichend schönes Chorpoem und so etwas wie die heimliche Nationalhymne. Dem ein oder anderen kommen immer noch die Tränen. Aus rotem Stein gehauen, wacht ein gewaltiger Nationaldichter namens Taras Schevtschenko über dem Geschehen. Vor gut 30 Jahren stand an seiner statt ein ebenso gewaltiger Lenin, den rechten Arm stramm wie üblich nach vorne in die bolschewistische Zukunft gerichtet. Davon mag jetzt niemand mehr wissen. Es ist Schweigeminute. Czernowitz, die Perle der Bukowina, gedenkt wie jeden Morgen der Toten des brutalen Krieges.
Dabei könnte doch alles so schön sein. Wer das Glück hat, an einem Spätsommerabend hügelabwärts auf die ehemalige Herrengasse zu stoßen, der glaubt sich in Zeit und Raum verirrt. Habsburg live, als hätte Österreichs Kaiser Franz Joseph, der 65 Jahre auch über Czernowitz herrschte, dem Schauspiel seinen Segen gegeben. Dramatisch schön beleuchtet sind die Gründerzeitbauten der heutigen Kobylanskoi-Straße. Mit ziemlich viel Geld und entsprechendem Elan wird die Prachtstraße der Bukowina dieser Tage besonders schön hergerichtet. Das Pflaster schmücken teurer Granit und Leisten aus Messing, die den Namen der Stadt in gleich drei Alphabeten benennen: Kyrillisch, Lateinisch, Hebräisch. Da ist es, das Wien des Ostens. Junge Ukrainer machen Pop-Musik, in den zahllosen Straßencafes und Clubs sitzen die Menschen und gaukeln einander Frieden vor.

Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen ist eine der oft bemühten Metaphern für das, was Czernowitz war und ist, auch und gerade jetzt. Czernowitz, das dürfte (neben Lemberg-Lviv) der bis heute wohl einzige Punkt sein, der im deutschen Gemüt zwischen Polen und Russland fest markiert ist. „Die Ukraine blieb eine Leerstelle im Horizont, ein weißer Fleck, von dem allenfalls Beunruhigung ausging“, hat das Karl Schlögel beschrieben, einer der leidenschaftlichsten Kenner der ukrainischen Geschichte. Dann kam der 24. Februar 2022.
Czernowitz, das war lange ein historisch einzigartiges Experiment, ein Platz des Zusammenlebens beispiellos vieler Nationalitäten auf vergleichsweise kleinem Raum, das gehätschelte Kleinod des Kaisers, der Geburtsort berühmter Dichter und Wissenschaftler, die östlichste Kulturmetropole Mitteleuropas; und als solche Schauplatz einer lebendigen deutsch-jüdischen oder jüdisch-deutschen Symbiose, aus welcher Weltliteratur entstand. Es folgten: Stalin, Hitler, Stalin – mit ihren ungezählten Opfern. Heute versucht sich die Stadt mit ihren 270.000 Einwohnern an einem neuen Experiment: Heimat für Zigtausende zu werden, denen der Krieg der Russen Heimat und Existenz geraubt hat.
Fluchtpunkt für Zigtausende
„Die Hunde, die waren eigenartig“, erinnert sich Serhij Bostan an die erste Welle der Flüchtlinge nach dem russischen Überfall. Vor allem aus Kiew seien sie gekommen, in Luxus-Autos, die man in Czernowitz so noch nicht gesehen hatte. Bostan dürfte Mitte 30 sein, er ist großgewachsen und lässig angezogen, trägt gepflegten Vollbart und war schon für die Deutsche GIZ im Einsatz. Jetzt verantwortet er die Wirtschaftsentwicklung der Stadt und kümmert sich um die internationalen Beziehungen. Er hat ein großes Büro, das lokalen Parteisekretären damals wohl auch gefallen hätte. Nur die Flaggen an der Kopfwand nicht: die gelb-blaue der Ukraine und die blaue mit den goldenen Sternen Europas. Wie vor 20 Jahren auf dem Majdan in Kiew.

40.000 Binnenflüchtlinge seien es offiziell, es könnten aber auch 60.000 sein, berichtet Serhij Bostan. Von Anfang an sei die Stadt Anziehungspunkt für die Kriegsvertriebenen gewesen, die nicht ins Ausland wollten. Diese Attraktivität habe vor allem damit zu tun, dass Czernowitz unter den Ukrainern den Ruf genießt, einzigartige europäisch, ja habsburgisch geprägte Provinzschönheit am nördlichen Rand der Karpaten zu sein. Außerdem hat die Stadt den jetzt durchaus zwiespältigen Vorteil, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion über wenig bis gar keine kriegswichtige Industrie zu verfügten. Wohl auch deshalb hat noch nicht eine russische Bombe oder Drohne hier eingeschlagen. Czernowitz – logischer Fluchtpunkt am Rande. „Die erste Welle war noch nicht ganz weg, dann kam der Donbass“, erzählt Bostan. Diese zweite Welle sei komplett anders gewesen. „Die hatten nichts mehr außer den Klamotten, die sie am Leib trugen.“
Die Nebeanyi Sotonnyi-Straße liegt gut anderthalb Kilometer südwestlich des Stadtzentrums. Auf dem angrenzenden Boulevard herrscht wenig Nostalgie und viel globalisierter Neon-Konsum, je weiter man aber in die Nebenstraßen vordringt, desto tiefer taucht man in die jüngere und vor allem graue Vergangenheit ein. Hausnummer 6 ist als Studentenwohnheim ein Block, der in seiner ganzen Tristesse an Wladiwostok erinnert. Zwar die spricht die gelb-blaue Fahne am Tor eine andere Sprache, gleich hinter der Tür aber riecht es noch nach Sowjetunion: der ins Mark gehende Gestank billigsten Bohnerwachses. Dazu gleich rechts hinter der Tür wie zu Breschnews-Zeiten die unvermeidliche Concierge – wobei Blockwärtin die Wirklichkeit eher treffen würde. Mächtig über Normalgewicht, schwarz gewandet, ebenso geschminkt und in schwarzen Pantoffeln wacht sie wie eine russische Höllenhündin über den Bestand der alten Hausordnung.

In diesem Ambiente hat Olha Nikolaeva Zuflucht gefunden. Sie ist Lehrerin für ukrainische Sprache und Literatur und sieht gutmütig aus. Sie geht schon auf die 60 zu, stammt aus Berdjansk am Asowschen Meer, zwischen Mariupol und Saporischja. Olha lebt jetzt auf 15 Quadratmetern, die sie mit Bettlaken abgetrennt und versuchsweise wohnlich gemacht hat. Gemeinschaftsküche, Gemeinschaftsbad. Fragt man nach ukrainischer Literatur, dann leuchten Olhas Augen, als wäre nichts geschehen. Stolz zeigt sie drei Bücherkisten: „Meine Bibliothek“. Sie weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Von den Russen habe sie immer wieder geträumt und Noteinkäufe getätigt, erzählt sie. Am 16. Mai 2022 stehen die Eindringlinge vor ihrer Tür, 20 Soldaten, bis an die Zähne bewaffnet. Ihre 82jährige Mutter muss sie zurücklassen. Verpacken kann sie nur das Nötigste, darunter ein Foto ihres Mannes und ein einziges Buch: „Der Fluss des Herkules“ von Lisa Kostenko.
Auf der Flucht geht es nur langsam voran, berichtet Nikolaeva. Ein russischer Kontrollpunkt folgt auf den nächsten: „Es war glühend heiß, vier Tage, 200 Kilometer, zwei Dutzend russische Checkpoints“, erzählt sie. „Jeder dort hat seine eigenen Gesetze gehabt, geschossen wurde nach Gutdünken“. Im Stau standen teils Hunderte von Autos. „Die Menschen, sie starben in den Kolonnen.“ An den Checkpoints helfen Wodka, Zigaretten, manchmal auch Gold. An einer Tankstelle findet sie eine ukrainische Flagge, die von den Russen heruntergerissen worden war. Heimlich bindet sie sich die Flagge unter ihre Kleider, sollte sie entdeckt werden, käme das einem Todesurteil gleich. „Jetzt ist die Fahne in sicheren Händen, ich werde mit ihr nach Berdjansk zurückkehren“.
Nikolaeva ist zäh. Von Czernowitz aus gibt sie jetzt Online Unterricht – in neun Länder. Insgesamt 31 ihrer Schüler haben so die Philologiekurse der 10. Klasse ihrer Berdiajnsker Schule absolviert. Ob es auch eine ukrainische Krimikultur gebe, will ein besonders kluger Besucher wissen. „Unser ganzes Leben ist ein Krimi“, sagt sie und lacht, bis es ihr im Halse stecken bleibt. Trauer, Trotz und fast schon verzweifelt anmutende Zuversicht verbinden sich bei Olha Nikolaeva binnen Sekunden. Wer hat dieser wunderbaren Frau dieses Leid angetan? „Die besten sterben, immer, das ist unsere tragische Geschichte“, sagt sie unvermittelt. In Berdjansk hätten die „Eindringlinge“ erzählt, „oh die Ukraine, die gibt es nicht mehr“. Das ganze Land sei besetzt. „Alles Propaganda. Es geht hier und heute nur noch um unsere Verteidigung.“
Der Wirtschaftsförderer in seinem großen Büro hat die gleiche Botschaft – im Prinzip. Bei jedem Cent werde gefragt, ob er nicht der Armee dienen müsse, sagt Serhij Bostan zur auf Frage, ob die Stadt nicht zu viel Geld für die Restaurierung alter Gebäude und Straßenzüge ausgebe. Es sei falsch, diesen Vergleich anzustellen. Dann redet er trotzdem wie der Wirtschaftsförderer irgendeiner westfälischen Mittelstadt. Die Verkehrsanbindung sei sehr gut, man habe immerhin einen eigenen „internationalen Airport“ vor der Haustür. Vor wenigen Wochen erst habe man einen neuen Industriepark ins Leben gerufen, es gebe sogar einen deutschen Automobilzulieferer, der zu allem Überfluss vom deutschen Honorarkonsul in Czernowitz geführt werde. Vor allen Dingen aber sei Czernowitz immer schon die „Stadt des Handels“, bis heute Nummer zwei in der Republik , mit engen Banden gerade auch in die Türkei. Wann er den Beitritt zur EU wünsche, wird er gefragt. „Gestern“.
Stadt für fünf Nationen
Vor genau 250 Jahren kam das „Buchenland“ zur Habsburger Monarchie, damals die rückständigste Region im ganzen großen Reich. Es gab Hütten, Leibeigene, polnische und rumänische Großgrundbesitzer. Aber nicht eine einzige Stadt. Der Aufschwung kam 80 Jahre später, dann aber gewaltig, mit Handel und Gewerbe., Bier und Schnaps. Ein weltoffenes jüdisches Bürgertum wuchs heran, man sprach Hochdeutsch selbstverständlich. Daneben streng orthodoxe jüdische Gemeinden mit jiddischem Idiom. Dazu Ukrainer und Polen, Armenier, Deutsche und Rumänen, so lebte man meist neben- und manchmal auch miteinander auf engem Raum beisammen. Daraus erwuchs eine ganz eigene, habsburgisch geprägte Stadtkultur, wie sie es wohl nirgendwo sonst auf der Welt je gegeben hat. Und das kann man bis heute sehen, allen Kriegen, allen Imperien zum Trotz. Czernowitz, ein großes historisches Wunderwerk auf einer Handvoll Quadratkilometern.

Das jüdische Haus ist einer der Prachtbauten der Stadt. Es ist das mit Abstand imposanteste von fünf Nationenhäusern in Czernowitz und steht gleich neben dem noch pompöseren Stadttheater, das von den damals weltberühmten Wiener Architekten Helmer und Fellner zur Zierde der Hauptstadt der Bukowina und zur Ehre des Kaisers zur selben Zeit erbaut wurde. Auf Kosten der aufgeklärten jüdischen Reformgemeinde wurde zwischen beiden Häusern ein Denkmal errichtet: Friedrich Schiller, der deutsche Dichter schlechthin. Als das Habsburgerreich nach dem Ersten Weltkriegs zerfiel und das Königreich Rumänien 1918 in den Besitz der Bukowina kam, war unser Schiller eines der ersten Opfer der Rumänisierung.
Im Erdgeschoss, etwas unscheinbar links neben der von marmornen Löwen eingefassten Haupttreppe gelegen, hat Mykola Kushnir das Museum für jüdische Geschichte eingerichtet. Er ist Historiker, spricht fließend Deutsch, hat auch in Wien und Klagenfurt studiert. Jetzt bespielt er zwei Räume auf gut 100 Quadratmetern. Alte Fotos und Urkunden, Texte, die üblichen jüdischen Alltagsgegenstände, eine Thora-Rolle, zwei Stremel-Hüte. Das sind die mit Pelzen geschmückten Festtagsmützen, die immer noch so eigenartig wirken. Viel ist es jedenfalls nicht.
Die große Zeit des Czernowitzer Judentums begann nach den mitteleuropäischen Revolutionen von 1848. Die aufblühende Stadt wurde Anziehungspunkt Tausender jüdischer Familien. Schon 1855 gab es eine erste deutschsprachige jüdische Grundschule, Handel und Industrie blühten auf, Brauereien, Zement- und Sägewerke, Brennereien. Und natürlich Banken, Versicherungen, Geldgewerbe. 1867, nach der Niederlage gegen Preußen, gibt der Kaiser allen Konfessionen die gleichen Rechte, weil aber die Juden nicht als Nation anerkannt sind, laufen sie weiter unter Deutsche. Nun beginnt das, was Museumsleiter Kushnir als „einzigartige Symbiose“ gezeichnet: „Eine schnelle und starke Integration der Juden in die Gesellschaft – als Deutsche!“ Das aufgeklärte Judentum von Czernowitz lebt österreichisch-deutsche Bürgerkultur, mehr als 100 deutsch-jüdische Vereine werden gegründet, darunter Musikvereine und sogar ein jüdisch-deutscher Volkskirchenverein.
Im jüdischen Haus am Theaterplatz, 1908 aus Eigenmitteln der aufgeklärten Gemeinde erbaut, drückt sich jüdisch-deutsches Selbstbewusstsein in Putz und Marmor aus. Oben auf der Fassade breitet ein gewaltiger Reichsadler die Schwingen, unten stützen vier protzige antike Helden die Säulen des Portikus. Die Rumänen schlugen nach 1918 als allererstes die Deutsche Inschrift „Jüdisches Haus“ aus dem Tympanon. Die Sowjets funktionierten es alsbald zum „Haus der Techniker“ um, die jüdischen Geschäfte wurden verstaatlicht, die Vereine verboten. Und was die Sowjets an jüdischem Leben übrig ließen, das machten die Nationalsozialisten komplett kaputt.
Paul Celan und Selma Meerbaum-Eisinger
Ein zweifelhaftes Glück im Unglück, dass die SS nur wenige Wochen in Czernowitz mordete. Danach ging es weiter ostwärts und dann waren wieder die Rumänen am Zug. Zigtausende Juden wurden seit 1941 auf Hungermärschen nach Transnistrien geschickt und dort ihrem Schicksal überlassen oder in die Zwangsarbeit verfrachtet. Selma Meerbaum-Eisinger, Cousine des wohl berühmtesten Czernowitzers, Paul Celan, war eines der Opfer. Am 28. Juni 1942 setzt man die 18jährige am östlichen Ufer des Dnestr aus, sie landet in einem Zwangsarbeitslager der SS und stirbt wenige Wochen später an Fleckfieber. Was von ihr bleibt, sind 57 melancholisch-schöne Gedichte, die sie mit Füller niedergeschrieben und einem Bekannten vor der Deportation zugesteckt hatte. Das sie übrig blieben, ist auch so ein Wunder aus Czernowitz. Jahrzehntelang blieben sie vergessen, ehe sie 1980 von einem Reporter der Illustrierten „Stern“ wiederentdeckt und publiziert wurden: „Ich möchte leben, schau, das Leben ist so bunt.“ Auf Wikipedia heißt es, sie sei eine rumänische Dichterin gewesen.
Der jüdische Friedhof von Czernowitz ist der Ort, wo Aufstieg und Niedergang unmittelbar und geradezu körperlich spürbar sind. An der mächtigen Aussegnungshalle sollen Bretter und Balken den Verfall aufhalten, vom angrenzenden modernen Anbau kündet ein Plakat, sonst herrscht Verfall. Der deutsche Botschafter in Kiew, berichtet Museumsdirektor Kushnir, habe seinerzeit 100.000 Euro für die Sicherung der Ruine mobilisiert. Seither hat sich nicht mehr viel getan. Das Geld werde für halt jetzt für andere Zwecke gebraucht, sagt er traurig.

Die zum großen Teil verwilderten Gräber künden von Reichtum und bürgerlichem Selbstbewusstsein: „Hier ruht Markus Kampelmacher, Besitzer des goldenen Verdienstkreuzes, Ehrenbürger der Landeshauptstadt Czernowitz, Gemeinde- und Cultusrath, Ehrenmitglied vieler humanitärer Vereine, Realitätenbesitzer…“ Zwischen Büschen, Brombeeren und Weißdorn ist manchmal ein kleiner Weg frei geschlagen, der zu einem noch frischen Grab führt. Am Ende der Sowjetunion lebten noch 14.000 Juden in Czernowitz. Heute dürften es keine 1500 mehr sein. An den Massengräbern der Juden wurden nach dem Weltkrieg kleine Erinnerungs-Schilder aufgestellt: „Hier ruhen Sowjetmenschen“. Von den einst 88 Synagogen sind noch ganze zwei übrig geblieben. „Die jüdische Geschichte hier, sie ist weitgehend verdrängt“, sagt Museumsdirektor Kushnir.
Das ukrainische Czernowitz aber blüht auf. Von der Hilflosigkeit der Menschen, zu retten, was noch an Schönheit übrig sei, schrieb ein Besucher im Jahr 1988. Von dem spätsowjetischen Zerfall ist, zumindest in der Innenstadt, nichts mehr zu spüren. Viele alte Gebäude sind geschmackvoll restauriert, an allen Ecken wird gemalt und gemauert, Czernowitz putzt sich auf in schwierigster Zeit. „Wir wollen Showcase für Europa sein“, sagt Wirtschaftsförderer Bostan. Die Reichspostfiliale präsentiert sich mit Marmor und Kristall in üppigsten Neobarock, für Leute aus dem im Land der DHL-Paketstationen ein unfassbar anmutender pompöser Anachronismus.
„Destabilisierung eines Staates, einer Gesellschaft, heißt in letzter Konsequenz: Man will die Menschen fertig machen“, hat Karl Schlögel in seinen „ukrainischen Lektionen“ zu dem geschrieben, was Wladimir Putin schon seit 2014 in der Ukraine treibt. Czernowitz stellt trotzig sein Entwicklungsziel „Cernivzi 2030“ dagegen. Darin enthalten ein langfristig angelegtes Programm zur naturnahen und ökonomisch nachhaltigen Entwicklung der Uferlandschaft des Flusses Pruth. Klingt nach Wolkenkuckucksheim in grün, ist aber ernst gemeintes Stadtentwicklungskonzept. Dazu gehört eine Müllsortierstation, mit der die Stadt ihr Entsorgungsproblem entschärfen will.
Ihr Hundeproblem haben die Bukowiner inzwischen im Griff. Die wilden Hunde von Czernowitz mögen in der Literatur keine Rolle haben, sind aber omnipräsent in der Stadt. Das ist eine ostmitteleuropäische Eigenheit, überall gibt es herrenlose Tiere, die, etwa in Chisinau, der Hauptstadt Moldovas, ganze Stadträume unsicher machen können. In Czernowitz hat man sich des Themas längst mit praktischer Vernunft angenommen: Die Tiere werden gefangen, geimpft und medizinisch behandelt, dann kastriert und mit Ohrenmarken versehen wieder in die städtische Freiheit entlassen. In den Parks und auf Grünflächen sind sie handzahm gepflegte Normalität, kein Hund muss mehr hungern in der Bukowina.

Olha Shynkaruk und ihren Mann Iurii haben jetzt keinen Hund mehr und ganz andere Sorgen. Sie sitzen mit zwei anderen Invasionsopfern in der kleinen Bibliothek des Goethe-Instituts im rahmensprengenden Hauptgebäude der Universität. Der Backsteinpalast, seit 2011 Weltkulturerbe, wirkt von fern wie eine Mischung aus Alhambra und Westminster, ist das Wahrzeichen der Stadt und war einst Sitz des orthodoxen Bischofs der Bukowina. In den Regalen des schlichten Instituts-Raums regieren Brockhaus, Goethe und Kehlmann, im Gespräch der Krieg. Drei Stunden lang erzählen die Menschen fast ohne Punkt und Komma. Olha ist die Kämpferischste von allen, immer wieder mischt sie sich in die Erzählungen ein: „Verhandeln bringt nichts, die Orks verstehen doch nur die Sprache der Gewalt.“
Von Jägern und Gejagten
Die Orks, das ist im Kriegs-Jargon der ukrainische Schmähname für die russischen Angreifer. Vor ihnen sind Iurii und Olha Shynkaruk vor gar nicht so langer Zeit noch um ihr Leben geschwommen. 2014, als der Krieg Putins de facto ja schon begann, floh die Familie von der Krim in die Gegend von Cherson, bauten sie sich in Oleshky auf dem linken Ufer des Dnestr ein neues Zuhause auf. Stolz zieht Iurii ein Foto aus der Brieftasche, ein toter Wolf bleckt die Zähne zwischen den Knien seines lachenden Jägers, ein Foto aus unbeschwerter Zeit. Shynaruk war einst auch führender Funktionär der regionalen Jägerschaft. Ein Jahr lang verbirgt sich die Familie nach der Invasion 2022 erfolgreich in Haus und Hof, dann sprengen die Russen in der Nacht auf den 7. Juni 2023 den Staudamm in Kachowka und die gewaltige Flut nimmt ihren Lauf. Binnen Minuten überschwemmen die Wassermassen auch die neue Heimstatt der Familie.
Ein Boot mit Außenbordmotor rettet ihnen und den Nachbarn das Leben, unter abenteuerlichen Umständen landen sie in Cherson am westlichen Ufer des Dnestr. Ein weiteres Foto aus der Brieftasche zeigt einen bis zum Hals im Wasser stehenden russischen Soldaten. „Er hat sich nicht getraut, mitzufahren“, erzählt er und berichtet, wie schlecht die Russen mit ihren eigenen Leuten umgegangen seien. Sie hätten ihre Leichen in mobilen Krematorien hinter der Front verbrannt. Mehr erzählt er nicht. Wie heißt es so schön in unseren Nachrichten: „Unabhängig bestätigen lassen sich die Informationen aus dem Kriegsgebiet nicht“. Aber Iurii, eine gestandene ukrainische Mannsfigur, muss plötzlich Tränen unterdrücken.
In solchen Momenten kommt Olha Sapa ins Spiel. Sapa ist Psychologin, oft genug muss sie vor allem körperlich intervenieren, ihre Hand auf eine Schulter legen, umarmen. Olha Sapa ist selbst geflohen, mit ihrer Familie aus Wassyliwka in der Region Saporischja. Am 1. März 2022 beschießt die russische Armee mit schwerem Geschütz ihre Heimatstadt, die Familie entscheidet binnen Minuten, fast alles stehen und liegen zu lassen. In Czernowitz organisieren die Sapas schnell Hilfe zur Selbsthilfe. Heute ist sie die Verbindungsfrau des Projekts „Winter-Wärme“, mit dem der Berliner Verein Active-Commons direkte Unterstützung für geflüchtete Familien aus dem Osten der Ukraine vor Ort organisiert. Olha, eine buchstäblich helfende Hand.

„Alltag und Solidarität, Unterstützung und Umarmung, das brauchen die Menschen vor allem“, sagst Julian Gröger. Er ist Mitte 40, kommt aus Schleswig-Holstein, ist heute in Moldau und Berlin zu Hause. Er ist ein sehr umtriebiger Mensch, er weiß, wie man Projekte nicht nur zum Leben erweckt, sondern dafür auch Mittel an Land zieht. Gröger ist Mitinitiator auch von „Winter-Wärme“. Das ist, wenn man so will, ein weiteres beispielhaft grünes Projekt für das, was Zeitenwende genannt wird. Zivilgesellschaft und ökologische Verantwortung stärken, Demokratie aufbauen, das alles gilt weiter. Dazu aber beweist „Winter-Wärme“, wie sehr der Angriff Putins grünes Denken fundamental verändert hat. Statt Wiederaufforstung im ländlichen Moldawien kümmert sich Julian Gröger jetzt um direkte finanzielle Unterstützung für Kriegsopfer in der Ukraine selbst.
Ein Jahr nach der russischen Invasion in der Ukraine hat der von ihm mitgetragene Berliner Verein Active Commons, der zunächst Ukraine-Geflüchtete in Moldova unterstützte, seine Strategie angepasst. Geld – etwa 200 Euro im Monat – geht nun direkt an die Familien der Binnengeflüchteten in Czernowitz. Außerdem organisiert der Verein, der auch vom Auswärtigen Amt unterstützt wird, Reisen von Deutschland nach Czernowitz, um die menschlichen Kontakte aufrecht zu erhalten. Dabei stützt sich Active Commons auf Ansprechpartner vor Ort wie Olha Sapa oder Museumsdirektor Kushnir. „No more transports please“, sagt eine Beteiligte. Das soll nicht heißen, dass Hilfe nicht willkommen wäre. Es sei aber viel sinnvoller, die Familien direkt zu unterstützen.
Es gibt vergleichbare Initiativen für die Ukraine, etwa „Schüler helfen leben“ oder die schweizerische „HEKS – Brot für alle“, die in und um Czernowitz Hilfe zur Selbsthilfe organisieren. Ihr gemeinsames Ziel: Aus der Unterstützung der Familien soll ein selbst bestimmtes kleines Stück Zukunft vor Ort entstehen. Es gibt keine direkte Not in der Bukowina, auch wenn viele Rentner, vor allem die alten Frauen in ihren bunten Kopftüchern, nur das Allernötigste haben. Aber die Supermärkte sind voll und die Kids cool. Abgetragene Schuhe aus deutschen Kellern sind jedenfalls das Letzte, was Czernowitz heute wirklich braucht.
Das Grauen von Mauriupol
„Ich habe Chemie studiert und trotzdem Angst vor der Ausreise in ein fremdes Land, auch Angst, noch einmal ganz neu anfangen zu müssen“, sagt Karolina Sovostina. Ein Foto aus besseren Tagen zeigt sie kess, rothaarig und hochschwanger in einem cremefarbenen Wollpullover in gutbürgerlichem Ambiente. Bis zum 24. Februar 2022 waren sie und ihr Mann erfolgreiche Kleinunternehmer mit Eigentumswohnung in Mariupol. Dann kam erst die Oma vom anderen Flussufer, dann kamen die Russen und dann auch noch die Wehen.
Ihre Leidens- und Fluchtgeschichte, die auch auf der Website von Active Commons steht, ist ein Zeitdokument. Außerdem ist die Story gut belegt. Es ist die Nacht auf den 10. März 2022, die Russen haben zum Sturm auf die eingekesselte Stadt geblasen und Karolinas Fruchtblase ist geplatzt, zeitgleich. Es folgt eine Odyssee im Krankenwagen, die Russen haben die Entbindungsklinik Nr. 2, in die Karolina eigentlich gebracht werden soll, in Schutt und Asche bombardiert. Also geht die Fahrt zur Notfallklinik 2, die noch in ukrainischer Hand ist. Hier bringt sie am 12. März 2022 ihre Tochter zur Welt, inmitten von Tod und Verzweiflung: „Ich lag im Flur auf einem gynäkologischen Stuhl, die Temperatur war knapp über Gefrierpunkt.“
Im Dokumentarfilm „20 Tage in Mariupol“, einem der erschütterndsten Filmdokumente des Krieges, ist Karolina Sovostina in Minute 105 kurz hinter einem Vorhang zu sehen. Am 13. März verlässt das Filmteam unter dem Schutz einer ukrainischen Sondereinheit Klinik und Stadt. „Das Schrecklichste hat erst danach angefangen“, sagt Karolina. Am selben Tag erobern die Russen auch das Krankenhaus Nr. 2. Dann herrschen Anarchie, Vergewaltigung, Mord. Panzer beschießen die Klinik, in den Fluren im Erdgeschoss stapeln sich die Leichen. „Sie haben uns alle unsere Vorräte weggenommen und uns gesagt, wir sollten doch nach Russland gehen.“ Karolina weigert sich, rettet sich mit Mann und Tochter zunächst zu ihrer Tante, deren Haus noch nicht zerbombt worden ist.

Am 28. März 2022 ist die junge Mutter mit einem der letzten Busse von Mariupol nach Westen gefahren. Wie es Karolina mit Tochter, Mann und 85jähriger Oma über 18 russische Checkpoints nach Czernowitz geschafft hat, ist wieder so ein kleines Wunder. Auf der Strecke geblieben sind Geld, Gold und Lebensfreude. Ob sie als junge Mutter auf der Flucht an irgendeiner Stelle auch Empathie von den Angreifern erfahren habe, will jemand im Gespräch mit ihr wissen. „Das habe ich nicht erlebt, am vorletzten Checkpoint wollten sie mir sogar mein Kind wegnehmen“. Eine gefälschte Geburtsurkunde rettet ihre Tochter. Mit ihrem Mann hat sie in Czernowitz ein neues Geschäft eröffnet, eine Reparatur-Werkstatt für gebrauchte Handys. „Ich bin nicht geschaffen für das Dasein als Angestellte“ sagt sie. Wer ihr ins Gesicht schaut, der sieht, wie viel Kraft sie das alles gekostet hat.
„Der Karpatenrücken väterlich – lädt dich ein- dich zu tragen – vier Sprachen – Viersprachenlieder – Menschen die sich verstehen“, hat Rose Ausländer aus der Ferne mit viel Melancholie über ihre Heimatstadt Czernowitz getextet. Die Dichterin ist 1988 im Altenheim der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf gestorben. Hier existiert bis heute eine bedeutende jüdische Diaspora. Düsseldorf ist seit 2022 Partnerstadt von Czernowitz, der Oberbürgermeister war noch im vorigen Mai in der Bukowina auf Besuch, ein sehr wichtiges Zeichen, heißt es hier. Die Biografie der jüdisch-deutschen Düsseldorfer Dichterin aus Czernowitz ist, um es vorsichtig zu sagen, abenteuerlich. Aber damit irgendwie auch idealtypisch. Aufgewachsen ist sie in einem großbürgerlichen Elternhaus, wo man die wichtigsten Regeln des Judentums bewahrte und gleichzeitig den Kaiser Franz Joseph verehrte. Viersprachenlieder.
Es ist dieses Multikulti-Erbe, mit dem Czernowitz seinen Traum lebendig hält, Teil eines großen Mitteleuropas zu sein. Ein Mitteleuropa, das die ganze Ukraine umfasst. Noch hat Wladimir Putin die Stadt und ihre Menschen in Frieden gelassen. Der Park vor dem ehemaligen zweiten kaiserlichen Gymnasium, in dem Paul Celan lernte, ist kürzlich mit einer hochmodernen Lichtanlage ausgestattet worden. Abends wirkt das bunt wie im Phantasialand. Mitten drin steht seit 2008 das Denkmal des Kaisers Franz Joseph. Locker und quietschgrün bestrahlt steht er da mit seinem Backenbart. Eine Ukrainerin hat ihm einen Strauß Herbstblumen in die rechte Hand gesteckt.
